Die 24-jährige Lisa war aus Charkiw nach Köln geflüchtet. Jetzt ist sie zurück und erzählt von einer Stadt, die für ihre Freiheit kämpft.
Rückkehr in die UkraineLisa berichtet vom Kriegsalltag im umkämpften Charkiw
Eine Lotterie. So nennt Lisa ihr Leben. Erst gestern Nacht seien drei Raketen in ihrer Stadt eingeschlagen. „Mann muss jeden Tag genießen, als wäre es der letzte“, sagt sie. Anderswo höchstens ein pathetischer Kalenderspruch, ist das für die 24-jährige Realität. Ihr letzter Tag ist keine Metapher, er kann schon heute sein. Dabei war Lisa eigentlich in Sicherheit: Als der Krieg vor fast zwei Jahren begann, floh sie mit ihrer Familie nach Köln (die Rundschau berichtete). Dass sie zurück nach Hause will, um vor Ort zu helfen, war aber die ganze Zeit klar. Jetzt lebt sie wieder im stark umkämpften Charkiw, ihrer Heimat - für die sie täglich ihr Leben riskiert.
„Dieses Land ist mein Herz“, sagt sie mit Tränen in den Augen und einem entschlossenen Blick. Ihre Mutter und ihre kleine Schwester sind in Köln geblieben, Lisa will sie in Sicherheit wissen. Für den Videoanruf sitzt sie vor einer Flagge der Ukraine, die an ihrer Wand hängt. Die junge Frau nimmt das Risiko zu sterben in Kauf, weil sie ihr Heimatland liebt: „Der Widerstand gibt uns Kraft.“ Sie möchte lieber nicht darüber reden, wie es ihren Freunden und Verwandten in der Ukraine geht. So viel sagen kann sie aber: „Viele Menschen haben jeden Tag große Angst, aber alle verstehen, dass sie kämpfen müssen.“
Auch Übersetzerin Julia Chenusha, Leiterin vom Kölner Verein Blau-Gelbes Kreuz, hat Tränen in den Augen, die das ganze Gespräch lang nicht verschwinden. Sie muss durchatmen, bevor sie Lisas Worte auf Deutsch wiederholt. „Du wirst mich zum Weinen bringen“, warnt sie und versucht sich zu einem leichten Lachen zu zwingen.
Die beiden Frauen kennen sich gut. Seit ihrer Zeit in Köln hat engagiert sich Lisa beim Blau-Gelben Kreuz. Zusammen haben sie schon Hilfslieferungen in die Ukraine gefahren. „Beim blau-gelben Kreuz habe ich eine zweite Familie gefunden“, sagt Lisa.
So richtig verstanden, was der Krieg anrichtet, habe Lisa erst, als sie aus Köln in ihren zerstörten Heimatort im Osten des Landes zurückkehrte. „Ich musste meine Stadt neu kennenlernen“, erzählt sie. Charkiw liegt nah an der russischen Grenze und wird deshalb besonders stark bombardiert. Rund die Hälfte alle bewohnbaren Hochhäuser waren Anfang des Jahres zerstört. Erst im Oktober wurden dort 50 Menschen beim Beschuss einer Trauerfeier in einem Café getötet.
Lisas Wohnung ist bisher unbeschädigt geblieben. Hier fühlt sie sich am wohlsten, egal ob die Stadt bombardiert wird oder nicht. „In der ersten Nacht nach meiner Rückkehr hatte ich den besten Schlaf seit Monaten“, erzählt sie. Und das, obwohl in diesen Stunden drei Bomben einschlugen. „Die habe ich einfach verschlafen, weil ich mich so zuhause gefühlt habe.“
Weil die russischen Raketen hier nur einen kurzen Weg haben, schaffen die Abwehrsysteme es selten rechtzeitig zu reagieren. Für Zivilistinnen und Zivilisten ist es oft unmöglich, sich in Bunkern in Sicherheit zu bringen. Jeden Moment kann etwas passieren. In Charkiw ist das Alltag geworden.
Unterricht im U-Bahn-Tunnel
Der Krieg sei hier so normal, wie er eben sein muss, um mit der ständigen Angst und dem Stress klarzukommen, um irgendwie weiter machen zu können, erklärt Lisa. Besonders alte Menschen und kleine Kinder haben aber Probleme, sich an die Explosionen und Sirenen zu gewöhnen. „Sie erleben den Krieg jeden Tag neu.“
Die Stadt versucht sich so gut es geht, mit den Angriffen zu arrangieren. Schulen geben ihren Unterricht meist online. Für Erstklässler findet der Unterricht in den U-Bahn-Tunneln statt, weil sie noch nicht ruhig an einem Bildschirm sitzen können. Es gibt Supermärkte und die Straßenbahn funktioniert noch. Immer wieder wird das alltägliche Treiben in der Millionenstadt aber von lauten Alarmsignalen durchbrochen, dann versuchen alle den nächstgelegenen Bunker zu erreichen.
Einige Cafés und Bars haben noch geöffnet. Dieses kleine Stück Normalität sei für die Ukraine sehr wichtig. „Es gibt kaum ein Lokal oder Geschäft, das einen großen Teil seiner Einnahmen nicht an das Militär oder an Hilfsorganisationen spendet“, sagt Lisa. Und nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Charkiws Bevölkerung sei ein Cafébesuch wichtig: „Die Menschen brauchen diese Sozialisierung, um Kraft zu tanken.“
Zeichen der Resignation bleiben in Charkiw aus
Kämpfen. Das tut nicht nur das Militär, sondern auch die Bewohner. Lisa ist in Kontakt mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die zum Beispiel Hilfsgüter verteilen. „Jeder hier trägt etwas zur Unterstützung der Ukraine bei. Alle, die ich kenne, haben nur ein Ziel und das ist, den Krieg zu gewinnen und endlich in Freiheit zu leben.“ Auch nach fast zwei Jahren Krieg sei von Resignation in der Bevölkerung nichts zu merken.
Was bleibt von den eigenen Wüschen und Träumen übrig, wenn Krieg herrscht? Andere in Lisas Alter machen gerade lange Reisen, erste Karriereschritte oder suchen nach dem, was sie sein wollen. Lisa ist gerade vor allem eins: Ukrainerin. „Es ist kein Geheimnis, dass alle hier sich das Gleiche wünschen“, sagt sie.
„Es ist unmöglich, an Zukunftspläne zu denken, wenn Jungs und Mädels aus deinem Bekanntenkreis an der Front sterben, wenn Menschen dir erzählen, dass ihr Haus von einer Rakete zerstört wurde.“ Als Übersetzerin Julia das ausspricht, schweigt sie kurz ergriffen und fasst dann in eignen Worten zusammen: „Du denkst nicht an dich, sondern nur an die Menschen, die du liebst.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Während Lisa abschließende Worte spricht, wird das Fenster, in dem Julias Gesicht zu sehen war, schwarz. Sie hat ihre Kamera ausgeschaltet und entschuldigt sich mit zittriger Stimme für ein paar Sekunden. „Danke Lisa, du hast es auf den Punkt gebracht“, sagt sie gerührt, bevor sie weiter übersetzt.
„Ich bin unfassbar dankbar für die Unterstützung Deutschlands, das möchte ich auch im Namen aller Ehrenamtlichen hier sagen. Ohne diese Hilfe wäre die Lage noch dramatischer.“ Auch für die reibungslose Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten wolle sie Danke sagen. „Deutschland hat sein Herz und seine Häuser geöffnet und das spüren auch die, die an der Front kämpfen und ihre Familien in Sicherheit.“
Aber es brauche mehr Unterstützung, um zu überleben. Lisa meint damit vor allem militärische Hilfen. Einer der wichtigsten Geldgeber, die USA, haben Anfang des Monats ihre Unterstützung eingestellt. „Wir haben so viel Leben verloren, so viele Kinder sind gestorben“, sagt Lisa. Kurz vor Weihnachten denkt sie nur an eins: „Mein Wunsch ist es, dass die Verluste endlich aufhören“.